Johannes Rux:  

Die Verfassungsentwürfe in den neuen Bundesländern

erstmals erschienen in: NJ(internet-link: "http://www.nomos.de/zeitschr/nj/nj.htm") - Neue Justiz 1992, S. 147-151 

Im juristischen Schrifttum wird die Diskussion um die Landesverfassungen der neuen Länder bislang nur am Rande verfolgt(1) . Das mag angesichts der geringen praktischen Bedeutung der Landesverfassungen in der Vergangenheit verständlich sein. Dennoch haben auch die Landesverfassungen einen eigenen Wert, insbesondere für die Bereiche, in denen die Länder eigene Kompetenzen besitzen. In den neuen Ländern ist weiter von Bedeutung, dass die Verfassungen ein Ausdruck des politischen und gesellschaftlichen Selbstverständnisses sein sollen.

Anhand einiger exemplarischer Themenbereiche soll hier der Stand der Diskussion in den Ländern herausgearbeitet werden. Dabei ist besonders interessant, ob und ggf. wo die Verfassungsentwürfe der neuen Länder sich von den bisherigen unterscheiden.

I. Unterschiedlicher Diskussionsstand in den neuen Bundesländern

Während in Brandenburg und Sachsen-Anhalt eine Verabschiedung der Verfassung bis zum Sommer 1992 angestrebt wird, ist z.B. in Thüringen noch kein Kompromiss absehbar.

In Brandenburg wird, nachdem der Verfassungsausschuss im Dezember 1991 einen überarbeiteter Entwurf in den Landtag eingebracht hat(2) , eine zügige Behandlung im Parlament angestrebt und darauf hingearbeitet, dass der Entwurf im Juni einer Volksabstimmung gestellt werden kann. Die CDU, die die Entwürfe anfangs mitgetragen hatte, meldete inzwischen doch noch erhebliche Bedenken an, sie verfügt im Landtag allerdings über keine Sperrminorität. In der Tat ist der Brandenburger Entwurf nicht unproblematisch: es gibt z.B. eine Pflicht des Staates, auf eine Fristenlösung beim Schwangerschaftsabbruch hinzuwirken. Nach der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG ist eine Fristenlösung verfassungswidrig(3) , daher ist wohl au ch die genannte Verpflichtung mit dem GG unvereinbar. Kritisch betrachtet werden muss auch die dem Bürger u.a. im Arbeitsverhältnis zugestandene "Gewissensfreiheit". Es ist fraglich, ob aus Art.4 II GG die nahezu unbeschränkten Rechte des Einzelnen, die der Brandenburger Entwurf statuiert, ableitbar sind.

In Mecklenburg-Vorpommern sind Entwürfe der Hochschullehrer von Mutius und Starck, die den Verfassungsausschuss beraten, und des Ministers für Justiz-, Bundes- und Europaangelegenheiten U. Born im Gespräch. Bemerkenswert ist, dass sich beide Entwürfe auf ein reines Organisationsstatut beschränken. Die Grundrechte und die Einführung von plebiszitären Elementen sollen erst später ausführlich diskutiert werden. Insofern bestehen gute Aussichten, dass ein Entwurf, wenn er denn vom Verfassungsausschuss akzeptiert wird, auch schnell vom Landtag verabschiedet werden kann.

In Sachsen setzte sich, nachdem anfangs eine Vielzahl von Entwürfen kursierte, im Verfassungsausschuss erwartungsgemäss der sog. "Gohrische Entwurf" als Arbeitsgrundlage durch. Dieser war ursprünglich im August 1990 überparteilich in der Stadt Gohrisch erarbeitet worden. Grundlage waren die Landesverfassungen der alten Bundesländer und der Verfassungsentwurf des "Zentralen Runden Tisches" in Ostberlin(4) . Später wurde der Gohrische Entwurf mehrfach überarbeitet und vom Verfassungsausschuss im Mai 1991 der Öffentlichkeit vorgestellt. Auch in Sachsen gab es zahlreiche Anregungen aus dem Volk. Schon bei der Vorstellung des Entwurfs hatten SPD, Bündnis 90/Grüne und PDS/Linke Liste für nahezu alle "kritischen" Punkte Dissensfassungen vorgelegt.

In Sachsen-Anhalt wurde im Oktober 1991 ein gemeinsamer Entwurf aller Fraktionen der Öffentlichkeit zur Diskussion gestellt(5) . Im Mai 1992 soll der Entwurf im Landtag zur Beratung eingebracht werden. Danach rechnet man mit einer zügigen Verabschiedung. Ob eine Volksabstimmung zur Verfassung stattfinden wird, berät der Landtag noch.

In Thüringen schliesslich haben mittlerweile alle Fraktionen eigene Entwürfe eingebracht(6) . Die Diskussion muss noch zeigen ob und wie ggf. Kompromisse zu erreichen sind. Fraglich ist auch, wie die Wahl von Bernhard Vogel zum neuen Ministerpräsidenten sich auswirken wird. Die Vorläufige Landessatzung vom 7.11.1990(7) tritt spätestens am 31.12.1992 ausser Kraft.

Anders als der Entwurf für eine DDR-Übergangsverfassung des "Zentralen Runden Tisches" in Ostberlin(8) , halten sich die in den Ländern diskutierten Entwürfe relativ eng an das Grundgesetz und die Verfassungen der alten Länder. Dennoch gibt es einige mehr oder weniger deutliche Abweichungen(9) .

II. Schwerpunkte der Verfassungsdiskussion

1. Grundrechte und Staatsziele

Landesgrundrechte sind gültig, sofern sie dem Grundgesetz nicht widersprechen. Die nach dem Grundgesetz verabschiedeten Landesverfassungen beschränkten sich aber in der Regel auf die Feststellung, dass die Grundrechte des GG auch auf Landesebene gelten. Teilweise wurden später Korrekturen durchgeführt, insbesondere infolge von Konkretisierungen und "Modernisierungen" durch die Rechtsprechung.

Nach dem Untergang des "Un-Rechtsstaates" der DDR will man sowohl die Rechte des einzelnen Menschen festschreiben, als auch versuchen, soziale Errungenschaften der DDR zu bewahren. Daher beschränkt sich keiner der Entwürfe darauf, pauschal die Grundrechte des GG zu übernehmen. Allein in Mecklenburg-Vorpommern möchte man erst später über diese Fragen verhandeln. In allen anderen Entwürfen wird das Grundrecht auf "informationelle Selbstbestimmung" eingeführt. Ob das nach dem "Volkszählungsurteil"(10) des BVerfG noch notwendig ist, ist fraglich. Bedenkt man aber die wachsende Bedeutung von Datenverarbeitungssystemen und die damit notwendig verbundene Datenschutzproblematik, erscheint eine Konkretisierung angemessen.

Neu ist auch das in Sachsen-Anhalt, Brandenburg und von der Opposition in Sachsen und Thüringen gewünschte Recht auf besonderen Schutz für alle auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaften. Neben der Ehe gibt es heute eine Vielzahl von Lebensgemeinschaften aller Art, die Aufgaben erfüllen, die früher alleine der Kleinfamilie zugewiesen waren. Es erscheint daher sinnvoll, diesen den gleichen Schutz zu gewähren. Da dadurch die Institution Ehe nicht gefährdet wird, sind diese Vorschläge auch mit dem GG (Art.6) vereinbar. Brandenburg gibt allen auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaften besonderen Schutz, unabhängig davon, ob in diesen für andere (Kinder, Alte oder Kranke) gesorgt wird. Dies verschärft die Abgrenzungsprobleme zu blossen "Wohngemeinschaften" noch weiter und stellt so die Praktikabilität der Norm in Frage.

Bemerkenswert sind Ansätze in fast allen Entwürfen(11) , den Kindern einen Anspruch auf Schutz vor körperlicher oder geistiger Misshandlung zu geben. Damit gibt es auch kein Züchtigungs-"Recht" der Eltern mehr. Fraglich ist aber, ob die Länder hier überhaupt Regelungen treffen dürfen, da der Bund sowohl für das Familienrecht als auch für das Strafrecht von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz nach Art.74 Nr.1 GG Gebrauch gemacht hat.

Neu ist schliesslich der verbreitete Versuch(12) , die Forschungsfreiheit zu beschränken. Es soll Möglichkeiten geben, umweltgefährdende Forschungsvorhaben per Gesetz einzuschränken. Insbesondere die Gen- und Nuklearforschung würden davon betroffen werden. Auch hier ergeben sich für die Praxis ganz erhebliche Abgrenzungsprobleme. Zudem ist nicht klar, ob die bestehenden Grenzen der Forschungsfreiheit (etwa durch konkurrierende Verfassungsnormen) solche Beschränkungen ohnehin zulässig machen.

Dem Umweltschutz sollen auch Vorschläge dienen, Auskunftsrechte der Bürger über Umweltdaten zu manifestieren. Es erscheint sinnvoll, solche Rechte gegenüber dem Staat zuzulassen, wobei hier immer wieder die Interessen der emittierenden Unternehmen (etwa am Schutz der Betriebsgeheimnisse) zu berücksichtigen sind. Die Abwägung dieser gegensätzliche Interessen wird im Einzelfall sicher zu grossen Problemen führen. Bedenkt man, dass im Einigungsvertrag (Art.34) das Verursacherprinzip für Haftungsregelungen im Umweltschutzbereich festgeschrieben wurde und dieses Prinzip auch in ein Bundesumweltgesetzbuch aufgenommen werden soll, erscheint die Manifestierung eines Auskunftsrechtes angebracht. Andernfalls ergäben sich regelmässig grosse Schwierigkeiten, einen "Verursacher" festzustellen. In diesem Sinne sind auch Dokumentationspflichten des Staates zu sehen, die Brandenburg vorsieht.

Neben den individuell einklagbaren Grundrechten enthalten viele der Entwürfe auch "Staatsziele". Es ist unzweifelhaft, dass es im Gesellschaftssystem der Bundesrepublik kein "Recht" auf Arbeit, Wohnung oder eine bestimmte Ausbildung geben kann. Einklagbar können solche Rechte allenfalls in einem zentral gesteuerten System sein. Daher wurden die Staatsziele durchweg auch als solche formuliert: sie sollen und können in erster Linie die Politik beeinflussen. Der Staat hat nach den meisten Entwürfen auf Arbeit, Wohungen, Bildung und Ausbildung, Umweltschutz sowie Gleichstellung von Frauen und Männern hinzuwirken.

Interessant ist, dass der Sinn von Staatszielen nicht mehr bezweifelt wird. Wie das Vorbild des Staatszieles "Sozialstaat" (Art.20 I GG) zeigt, sind solche Bestimmungen keinen Leerformeln, sondern durchaus justitiabel. Obwohl diese Normen keinen individuell einklagbaren Anspruch mit sich bringen, bleiben sie für allen Staatsorgane verbindlich. Dies kann insbesondere bei Güterabwägungen entscheidend sein: welchen Einfluss hätte ein Staatsziel Umweltschutz wohl auf die Verkehrspolitik bei der Abwägung zwischen Förderung des Schienen- und des Strassenverkehrs? Sicher würde der KfZ-Verkehr nicht verschwinden, die umweltfreundlicheren öffentlichen Verkehrsmittel würden aber grössere Unterstützung erfahren müssen.

Auch wenn die genannten Staatsziele nicht schon aus diesem "Sozialstaatsgebot" und der in Art.14 II GG statuierten Sozialbindung des Eigentums ableitbar sein mögen, so führt ihre ausdrückliche Nennung doch zu einer Akzentverschiebung. Sie sind auch Zeichen des veränderten Verfassungsverständnisses. Grundrechte sind nicht mehr nur reine Abwehrrechte, sondern beinhalten auch Elemente von Leistungs-und Teilhaberechten.

Während eine Pflicht der Bürger, die Umwelt zu schützen (so die Entwürfe in Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt), praktisch kaum durchsetzbar sein wird, ist es unproblematisch, wenn der Staat sich durch ein "Staatsziel Umweltschutz" dazu verpflichtet. Sicherlich ist er auch schon aufgrund seiner Verpflichtung die körperliche Unversehrtheit der Menschen zu schützen, zu bestimmten Umweltschutzmassnahmen gezwungen. Dieser individuelle Aspekt verpflichtet den Staat aber noch nicht notwendig zur Berücksichtigung der Interessen künftiger Generationen und damit der gesamten Gesellschaft. Ein "Staatsziel Umweltschutz" ermöglicht hingegen auch die Berücksichtigung dieser Interessen. Die Aufnahme dieses Staatszieles könnte dazu führen, dass auch die Einführung in das GG wieder erwogen wird, die 1990 schon einmal gescheitert war.

In den vergangenen Jahrzehnten hat es sich gezeigt, dass Art.3 II GG nicht ausreichte, um die tatsächliche Gleichberechtigung von Frauen und Männern herzustellen. Diese Norm kann sogar so ausgelegt werden, dass aktive Frauenförderung unmöglich gemacht wird. Die Verfassungsentwürfe lösen dieses Dilemma, indem sie den Staat beauftragen oder verpflichten, auf diese tatsächliche Gleichstellung hinzuwirken. Wegen ihres beschränkten Wirkungskreises sind die entsprechenden Normen allerdings kaum geeignet, grosse praktische Wirkungen zu entfalten. Ihr Vorbildcharakter für eine Reform des Art.3 II GG bleibt aber bestehen.

2. Plebiszitäre Elemente zur unmittelbaren Beteiligung der Bürger an Entscheidungen

Angesichts der Bedeutung der Bürgerbewegungen in der Vergangenheit, kann es kaum verwundern, dass alle Entwürfe, mit Ausnahme der in Mecklenburg-Vorpommern, weitreichende Möglichkeiten für die unmittelbare Beteiligung der Bürger an den Entscheidungsprozessen vorsehen.

Das Grundgesetz verzichtet auf fast alle plebiszitären Elemente. Zwar boten die Erfahrungen der Weimarer Zeit realistisch betrachtet keine Anhaltspunkte für diese Ablehnung. Dennoch setzt sich im Parlamentarischen Rat Theodor Heuss' These von der "Prämie für jeden Demagogen" durch, und es wurde auf Bundesebene ein reines Repräsentationssystem gewählt(13) .

Auf Landesebene war die Entscheidung für die repräsentative Demokratie keineswegs so absolut. In der Mehrzahl der Länder sind Volksabstimmungen vorgesehen(14) . Faktisch gewannen sie aber nie an Bedeutung, da die Hürden bis zu einer solchen Abstimmung i.d.R. unüberwindbar hoch waren: zunächst muss ein Volksbegehren von 20 % der Stimmberechtigten unterzeichnet werden. Bayern, das "nur" 10 % verlangt, war bis zur jüngsten Verfassungsreform in Schleswig-Holstein das einzige Bundesland, in dem Volksabstimmungen praktisch durchgeführt werden konnten und auch tatsächlich durchgeführt wurden. Das Bayerische Beispiel zeigt, dass Volksabstimmungen keine Gefahr für die Stabilität eines politischen Systems mit sich bringen müssen. Ohnehin sind die besonders sensiblen Bereiche des Landeshaushaltes, der Leistungs- (Besoldungs-) und Abgabengesetze, sowie Personalentscheidungen, in allen Ländern den Plebisziten entzogen. Die vielbeschworene Gefahr, dass Parlamentarier durch Plebiszite dazu verführt würden, die Verantwortung für kritische Entscheidungen auf die Bürger abzuwälzen, erscheint angesichts der praktischen Erfahrungen unbegründet. Die Politiker machen im Übrigen nicht den Eindruck, als ob sie bereit wären, gerade wichtige Fragen den Bürgern zur Entscheidung zu überlassen.

Den neuen Bundesländern diente im wesentlichen die Schleswig-Holsteinische Verfassung von 1990 als Vorbild. Diese sieht zunächst eine Volksinitiative vor, die bestimmte, durch Gesetz festzulegende Gegenstände der politischen Willensbildung betreffen kann und von 20.000 stimmberechtigten Bürgern unterstützt werden muss. Nach Beratung über diese Initiative im Landtag ist ein Volksbegehren möglich, das wiederum der Unterstützung durch 5 % der Stimmberechtigten bedarf. Der darauffolgende Volksentscheid ist erfolgreich, wenn 50 % der Stimmen und gleichzeitig mindestens 25 % der Stimmberechtigten zustimmen.

Die Entwürfe in Brandenburg und Sachsen-Anhalt sehen zunächst eine Volksinitiative zu bestimmten Fragen vor, die durch Gesetz noch näher festgelgt werden müssen. Nachdem der Landtag eine solche Initiative behandelt hat, ist ein Volksbegehren möglich, erreicht dieses die Zustimmung einer bestimmten Zahl von Wahlberechtigten, wird ein Volksentscheid eingeleitet. Während in Brandenburg aber nur die Unterstützung der Volksinitiative durch 1% der Stimmberechtigten notwendig ist (etwa 20.000), verlangt man in Sachsen-Anhalt 2,2 % (etwa 50.000). Für das Volksbegehren sind in Brandenburg etwa 4 % der Stimmberechtigten notwendig, in Sachsen-Anhalt 14,2 %, also mehr als in Bayern!

Besonders problematisch sind Bestimmungen, nach denen eine bestimmte Zahl der Stimmberechtigten und nicht nur der Abstimmenden zustimmen muss. Während z.B. in Thüringen das Quorum für ein Volksbegehren relativ niedrig angesetzt ist, bedeutet die Forderung der CDU in Sachsen, dass bei einer Volksabstimmung die Zustimmung von 50 % der Stimmberechtigten notwendig ist, die faktische Verhinderung der meisten Plebiszite(15) . Das verdeutlicht folgende Rechnung: Beteiligen sich immerhin 75 % der Stimmberechtigten an einer Volksabstimmung (also so viele, wie an einer Landtagswahl), sind immerhin zwei Drittel aller abgegebenen Stimmen für den Erfolg des Volksbegehrens notwendig. Anders gesagt: jeder Nicht-Wähler wird gezählt, als ob er mit "Nein" gestimmt hätte.

Nur die Entwürfe in Brandenburg und die der Opposition in Sachsen und Thüringen bedeuten real eine Erweiterung der Möglichkeiten für die direkte Bürgerbeteiligung im Vergleich zu den alten Bundesländern. Angesichts der Erfahrungen besonders in Bayern erstaunt das durchaus.

Zu bedenken bleibt aber, dass Volksentscheide in der Praxis wahrscheinlich sowieso ohne grosse Bedeutung bleiben werden. Spätestens wenn ein Volksbegehren zustandekommt, ist zu erwarten, dass sich eine Partei des Anliegens annimmt und das Verfahren in die "normalen" parlamentarischen Bahnen lenkt. Plebiszitäre Verfahren dienen dann vor allem zur Beförderung der öffentlichen Diskussion. Plebiszitäre Elemente zielen also (zunächst) nicht auf eine genuin basisdemokratische "Volksgesetzgebung" ab, sondern auf die Anregung der öffentlichen Diskussion über bestimmte Fragen, die von Parlament und Regierung "vernachlässigt" wurden. Von daher wäre zu überlegen, ob nicht eine Reform des Petitionsrechts diesen Zweck ebensogut erfüllen könnte. Wenn Gruppenpetitionen auch ein ausgearbeiteter Gesetzentwurf zugrundeliegen könnte und dieser Entwurf bei einer bestimmten Unterschriftenzahl vom Parlament behandelt werden müsste, wäre der Effekt wohl derselbe. Durch eine angemessene Beteiligung der Gruppenvertreter am Beratungsverfahren könnte sichergestellt werden, dass diese Behandlung im Parlament nicht nur oberflächlich bleibt.

3. Durchsetzung von Bürgerrechten durch Beauftragte

Manche der Entwürfe sehen sog. "Beauftragte" als unabhängige Instanzen zur Durchsetzung von Bürgerrechten vor, ähnlich wohl dem "Ombudsmann" in Schweden. Wenn dafür ein einzelner "Bürgerbeauftragter" zuständig ist, ist das wohl auch praktikabel, obwohl sich dessen Aufgaben nicht wesentlich von denen des Petitionsausschusses unterscheiden. Werden aber nebeneinander, wie z.B. in Brandenburg, mehrere solcher Stellen geschaffen, besteht die Gefahr, dass erhebliche Kompetenzprobleme (z.B. zwischen Ausländerbeauftragten, Frauenbeauftragten, Beauftragten für den Strafvollzug, Datenschutzbeauftragten) auftreten. Wegen der Komplexität seiner Aufgaben wäre aber in jedem Fall die Institution eines "Datenschutzbeauftragten" sinnvoll. Die technischen Probleme lassen es angebracht erscheinen, hier eine eigene Stelle zu schaffen.

4. Verhältnis von Parlament und Regierung (16)

Die meisten Entwürfe (ausser in Thüringen) legen keine Sperrklausel für Wahlen fest. Zwar kann eine solche Klausel auch im Wahlgesetz noch eingeführt werden; zumindest lassen sich die Länder so aber die Möglichkeit offen, weniger als die üblichen 5 % der Stimmen zu verlangen. In Brandenburg wird etwa die Festlegung auf 3 % erwogen. Auch dies ist als Bekenntnis zum Pluralismus und zur Beteiligung der Bürgerbewegungen etc. an der Politik zu verstehen.

Mit am interessantesten an den Entwürfen sind die Ansätze, die Stellung der Abgeordneten zu stärken. Das Grundgesetz hat eine Spannung zwischen der Unabhängigkeit des einzelnen Parlamentariers und der Stellung der Parteien (Artt.21 und 38) geschaffen. Die Folgen, insbesondere der mit dem Wortlaut des Art.38 GG kaum vereinbare "Fraktionszwang" sind bekannt. Die Stellung der einzelnen Abgeordneten soll durch individuelle Auskunfts- und Fragerechte verbessert werden. Auch hier wieder geht der Brandenburger Entwurf am weitesten, indem er den Abgeordneten ein generelles Akteneinsichtsrecht zugesteht. Ob so weitgehende Rechte notwendig und praktikabel sind, mag dahingestellt bleiben. Entscheidend ist die Verpflichtung der Exekutive in allen Entwürfen, die Anfragen möglichst unverzüglich und vollständig zu beantworten. Das beste Auskunftsrecht nützt nichts, wenn die Antworten nicht ausführlich sind. Zahlreiche Entwürfe (u.a. Brandenburg, Sachsen-Anhalt und die der Opposition in Sachsen) greifen darüberhinaus einen Gedanken auf, der auch in anderen Landesverfassungen schon verwirklicht ist: über bestimmte eminent wichtige Themen muss die Landesregierung von sich aus berichten: Grossvorhaben, Gesetzesplanungen, die Verhandlungen im Bundesrat und, in Zukunft von entscheidender Bedeutung, die Entwicklung des EG-Rechts.

Ein weitere Entwicklung zugunsten der Minderheiten findet sich im Recht der Untersuchungsausschüsse. Das Quorum (20 bzw. 25 %), das für die Einsetzung der Ausschüsse notwendig ist, wird auch für die Beweisermittlung verlangt: die Mehrheitsparteien können daher unliebsame Beweisanträge nicht überstimmen. In dieselbe Richtung zielt die Festschreibung diese Quorums für die Erzwingung der Anwesenheit von Regierungsmitgliedern in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern (v.Mutius/Starck).

Angesichts dieser Stärkung des einzelnen Abgeordneten und Minderheitengruppen ist die weitverbreitete Festschreibung der Gleichberechtigung der Opposition eigentlich überflüssig. Schliesslich (sollen) auch die Abgeordneten der Regierungsparteien die Exekutive kontrollieren. Eine Diskriminierung der Opposition im Parlament ist nach der Rechtsprechung des BVerfG auch nicht zu erwarten(17) .

Grundsätzlich scheint sich die Einführung von (eher kleinen) Berufsparlamenten durchzusetzen. Angesichts der erheblichen Aufgaben, die die Parlamente der neuen Länder erledigen müssen, scheint das gerechtfertigt. Ihnen obliegt ja nicht nur die Kontrolle der Regierung, sondern auch die gesamte Landesgesetzgebung, die die alten Länder im wesentlichen abgeschlossen haben.

5. Schule und Verfassung

Die Schule ist eines der wenigen Gebiete, die den Ländern noch weitgehend in eigener Kompetenz verblieben sind. Von daher ist es kaum verwunderlich, dass die Entwürfe, wie auch die meisten der alten Landesverfassungen, dazu Regelungen treffen. Hier zeigt sich eine recht deutliche Diskrepanz zwischen alten und neuen Ländern. Bei den "Erziehungszielen", die zusammen mit der Präambel als wichtigster Ausdruck des gesellschaftlichen Selbstverständnisses gelten können, verzichten alle Entwürfe auf Bezüge zum Christentum. Die Erziehung zu "Ehrfurcht vor Gott" ist nicht Aufgabe der Schulen.

Dies mag angesichts der grossen Bedeutung der Kirchen für die Entwicklung der letzten Jahre erstaunlich erscheinen, entspricht aber einer generellen Tendenz in den neuen Ländern, eine radikale Trennung von Kirche und Staat zu vollziehen. Man will die frühere "moralische Instanz" eben gerade nicht in den Staat integrieren. Ohnehin waren die Kirchen mehr ein Forum für kritische DDR-Bürger als eine treibende Kraft in der Opposition. Man kann sicher davon ausgehen, dass die DDR-Gesellschaft wesentlich säkularisierter war, als die der Bundesrepublik. Diese Traditionen setzen sich in gewisser Weise fort. In diesem Zusammenhang ist auch interessant, dass Brandenburg den Religionsunterricht nicht als ordentliches Lehrfach an den Schulen einführen möchte.

6. Landesverfassungsgerichte

Alle Entwürfe sehen die Einrichtung von Landesverfassungsgerichten vor. In der Regel müssen nicht alle Landesverfassungsrichter auch Richter sein oder zumindest die Befähigung zum Richteramt haben. So brauchen z.B. in Brandenburg 3 von 9 Richtern nicht zwingend Juristen zu sein(18) Dadurch lässt man die Möglichketi offen, z.B. auch Personen aus der Bürgerbewegung der eham. DDR, die ja in der Regel nicht Juristen sind, in die Landesverfassungsgerichte zu berufen. Andernfalls würden die Richterstellen wohl fast nur mit Juristen aus den alten Bundesländern besetzt werden.

III. Resümmée

Die Entwürfe für die Landesverfassungen drücken drei grundlegende Tendenzen aus, die sicherlich auch in der eben begonnenen Diskussion um die Reform des Grundgesetzes eine Rolle spielen werden.

Zunächst wird das Verhältnis von Staat und Bürgern neu definiert. Der Bürger bekommt nicht mehr nur Abwehrrechte zugestanden, die ihn vor staatlichem Missbrauch schützen sollen. Stattdessen wird mit erweiterten Staatszielen und durch verbesserte Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger versucht, einen gesamtgesellschaftlichen Konsens zu ermöglichen. Nicht nur der Bürger ist dem Staat verpflichtet, sondern auch umgekehrt der Staat dem Bürger gegenüber.

Damit untrennbar verbunden ist der zweite Trend hin zu einer wirksameren Kontrolle der Regierung . Angesichts der bitteren Erfahrungen mit dem SED-Regime in der DDR ist es kein Wunder, dass nun in den neuen Landesverfassungen die Minderheitenrechte einen besonderen Rang einnehmen.

Diese Tendenzen sind Ausdruck eines gewandelten Verfassungsverständnisses. Im Laufe der Geschichte gibt es doch eine deutliche Entwicklung von der Verfassung als Beschränkung der Macht des absoluten Fürsten hin zu einer Art "Gesellschaftsvertrag", dem Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses.

Das dritte wesentliche Element ist die Betonung der eigenen Staatlichkeit der Länder . Dies hat weit über die Grenzen der Landesverfassungen hinaus Bedeutung. Durch die Herausstellung ihrer individuellen Verfassungsgrundlagen unterstützen die neuen Länder auch die Entwicklung zur Neubewertung des Föderalismus. Dieser hat die Herstellung einer gewisse Balance zwischen Zentralgewalt und Regionen möglich gemacht. Dadurch erst konnte die relativ gleichmässige Entwicklung der Länder gesichert werden. Auch die regionalen Eigenheiten, die in Deutschland besonders ausgeprägt sind, verlangen eine föderale Struktur. Ein Indiz für die Zustimmung zum föderalen System ist nicht zuletzt, dass in der ehemaligen DDR sehr schnell Länder gebildet wurden, und zwar weniger nach ökonomischen als nach ethnischen und historischen Kriterien.

Zu beachten ist, dass sich in der Entwicklung der Bundesrepublik die Zentralgewalt erst nach und nach viele Kompetenzen herangezogen hat, bis den Ländern kaum noch eigene Entscheidungsbefugnisse verblieben waren. Die Ausweitung der konkurrierenden Gesetzgebung durch den Bund und die Einführung von Rahmengesetzgebungsbefugnissen zeugen von dieser Entwicklung. Im Grunde besitzen die Länder heute nur noch rudimentäre Staatlichkeit. Sie sind in erster Linie Verwaltungseinheiten geworden. In den alten Ländern gibt es inzwischen kaum mehr originäre Gesetzgebungszuständigkeiten, die ausgefüllt werden können oder müssen: Nachdem die Schulgesetze, Polizeigesetze etc. erlassen worden sind, bleibt oft nur die Verabschiedung von Ausführungsgesetzen zum Bundesrecht. Der Aufgabenschwerpunkt der Landesparlamente verlagert sich daher von der Legislative zur Kontrolle der Exekutive. Berücksichtigt man diesen Wandel, dann erscheinen die Ansätze für eine Parlamentsreform in ganz anderem Licht.

Auch die Reste der originären Länderkompetenzen werden gefährdet: im Zusammenhang mit der Europäischen Einigung kann der Bund nach Art.24 GG auch ausschliessliche Länderkompetenzen auf die EG übertragen, und das ohne Zustimmung der Länderparlamente(19) . Zwar wurde im Einführungsgesetz zur Einheitlichen Europäischen Akte ein Abstimmungsverfahren zwischen Bund und Ländern festgeschrieben, aber der Widerspruch der Länder ist für den Bund nicht zwingend(20) . Beschränkt ist die Übertragungskompetenz nur durch Art.79 III GG.

Grundlage für jede Stärkung der Länder ist die Finanzverfassung. Der Streit darum schwelt unabhängig von der möglichen Ausweitung der Länderkompetenzen schon lange. Wie sollen die Einnahmen zwischen Bund und Ländern einerseits und zwischen den Ländern untereinander andererseits in Zukunft verteilt werden? Infolge der deutschen Einheit ist die Lösung dieses Problems noch dringender geworden: zwar ist nach Art.7 EV bis zum 31.12.1994 der Finanzausgleich nach Art.107 GG zwischen den Ländern ausgesetzt. Dann aber werden die Konflikte unweigerlich ausbrechen und es wird sich zeigen, ob die föderale Struktur in ihrer heutigen Form Bestand haben kann. Daran wird man unter anderem die Frage festmachen müssen, ob nicht doch eine Neugliederung des Bundesgebietes (Reduzierung der Länderzahl) notwendig ist.

Sowohl für die Frage der Neubestimmung der Verhältnisses von Bürger und Staat, als auch von Bund und Ländern versuchen die Entwürfe für die Landesverfassungen in den neuen Ländern Vorgaben zu machen. Es wird sich zeigen, ob das Interesse an dieser grundsätzlichen Diskussion bei den Menschen geweckt werden kann und ob sie auf den Bund und die anderen Länder überspringen wird.

Alle Rechte beim Autor: johannes.rux@uni-tuebingen.de( johannes.rux@uni-tuebingen.de)

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Fussnoten:

1. Vgl. K. Bönninger "Verfassungsdiskussion in den ostdeutschen Bundesländern" DuR 1991,394; ders. "Verfassungsdiskussion im Lande Sachsen", LKV 1991,9; S. Hölscheidt "Grundlagen und Entwicklung der Verfassungsberatungen in Mecklenburg-Vorpommern", DVBl. 1991,1066; H.-P. Schneider "Vom Organisationsstatut zur Vollverfassung", DuR 1991,160,161 ff.; J.Schwabe "Anmerkungen zum Verfassungshandwerk", ZRP 1991,361; H.Simon "Wegweisendes Verfassungsmodell in Brandenburg", NJ 1991,427; W. Graf Vitzthum "Auf der Suche nach einer sozio-ökonomischen Identität", VBlBW. 1991,404; K. Vogelgesang "Die Verfassungsentwicklung in den neuen Bundesländern", DÖV 1991,1045.zurück zum Text

2. LT-Drs.1/625 ; der Vorentwurf ist im GVBl. Nr.9 vom 7.6.1991 veröffentlicht. Vgl. dazu auch H.Simon NJ 1991,427 zurück zum Text

3. BVerfGE 39,1, Beschluss vom 25.2.1975 zurück zum Text

4. Dieser war als Vorstufe zu einer neuen DDR-Verfassung gedacht, die im Rahmen der Wiedervereinigung als Basis für eine gesamtdeutsche Verfassung dienen sollte, abgedruckt im Neuen Deutschland vom 18.4.1990 und der Frankfurter Rundschau vom 20/21.4.1990 zurück zum Text

5. Aufruf des Landtagspräsidenten vom 13.11.1991 zurück zum Text

6. CDU: LT-Drs.1/285 , 10.4.91; FDP: LT-Drs.1/301 , 25.4.91; SPD: LT-Drs.1/590 NF/GR/DJ: LT-Drs.1/659 , 23.8.91; LL/PDS: LT-Drs.1/678 , 9.9.91; jetzt synoptisch zusammengestellt von der Verwaltung des Thüringer Landtages zurück zum Text

7. GBl.Thüringen Nr.1, S.1 zurück zum Text

8. dazu: E. Fischer "Verfassungsgeschichte der DDR 1990", KJ 1990,413; B. Schlink "Deutsch-Deutsche Verfassungsentwicklungen im Jahre 1990", Der Staat 1991,163 zurück zum Text

9. Angesichts der Zahl der Entwürfe gebietet sich eine gewisse Beschränkung, um die Übersichtlichkeit und Verständlichkeit der Darstellung nicht zu gefährden. Obwohl sie z.T. sehr interessante Ansätze enthalten, kann auf die Entwürfe der kleinen Parteien daher nur am Rande eingegangen werden. Es ist aus diesem Grund leider auch nicht möglich, jede besprochene Norm exakt zu zitieren.zurück zum Text

10. BVerfGE 65,1, Beschluss vom 15.12.1983 zurück zum Text

11. Nicht in den Thüringer Verfassungsentwürfen der CDU- und der FDP-Fraktion zurück zum Text

12. Nicht in den Thüringer Verfassungsentwürfen der CDU- und der FDP-Fraktion und im "Gohrischen Entwurf" in Sachsen, anders aber dort die Opposition zurück zum Text

13. Vgl. Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge, Bd.1, Tübingen 1951, S.620 f.zurück zum Text

14. Vgl. H. Simon , aaO (Fn.1), 429; J. Misselwitz "Erweiterung rechtsstaatlicher Möglichkeiten für Volksentscheide", NJ 1991, 189 zurück zum Text

15. Die SPD fordert dagegen nur die Mehrheit der abgegebenen Stimmen und mindestens die Beteiligung von 20 % der Stimmberechtigten, während die PDS/LL und Bündnis 90/Grüne gar keine Sperrklausel, sondern nur die abgegebenen Stimmen gezählt haben wollen.zurück zum Text

16. Zum Stand der Entwicklung in den alten Ländern und den Reformansätzen: M. Friedrich "Entwicklung und gegenwärtige Lage des parlamentarischen Systems in den Ländern" in: Schneider/Zeh (Hg.) "Parlamentsrecht und Parlamentspraxis", Berlin/New York, 1989 (§ 63); M. Freytag "Möglichkeiten und Grenzen einer Parlamentsreform", Regensburg, 1990 zurück zum Text

17. Vgl. hierzu H.P.Schneider "Die Parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland", Frankfurt a.M., 1974, inbes. §§ 9,10 zurück zum Text

18. In Mecklenburg-Vorpommern (Entwurf von Mutius/Starck) sind es 2 von 7, in Sachsen 4 von 9 und in Thüringen 3 von 9 (CDU) bzw. von 7 (SPD). Mecklenburg-Vorpommern (Entwurf Born) und Sachsen-Anhalt regeln dieses Problem nicht.zurück zum Text

19. BK- Tomuschat Art.24 GG, Rz.25 zurück zum Text

20. Zur Problematik allgemein: Hrbek/Thaysen (Hg.) "Die Deutschen Länder und die Europäischen Gemeinschaften", Baden-Baden, 1986 zurück zum Text


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