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Hauser Als erstarrter Wohlfahrtsstaat, unfähig zu Reformen, so erscheint in Europa zur Zeit die Situation von Deutschland. Waren die Deutschen lange Zeit die Musterschüler in der Europäischen Union, so sind sie jetzt die Sorgenkinder. Und nicht die Großen, sondern die Kleinen machen vor, wie es geht. Luxemburg ist so gut wie sorgenlos, Irland hat sich clever mit Hilfe der Europäischen Union aus dem Sumpf gezogen, aber das eigentliche Vorbild sind die Niederlande. Dort schlossen die Tarifpartner schon vor 15 Jahren das Bündnis für Arbeit und die politischen Parteien einigten sich schon damals auf ein gemeinsames Vorgehen. Die Früchte ernten sie heute. Im vergangenen Jahr lag die Arbeitslosenquote bei 6,7 Prozent - Tendenz fallend. Doch eins muß auch festgehalten werden: In Holland gab es immer eine breite soziale Sicherung, wie in Deutschland. Aber nie auf diesem hohen Luxusniveau, wie man es hier verlangt. Wie haben die Niederländer das geschafft und ist wirklich alles rosarot?

Hintersetzer



Ein Bericht von Gerd Helbig

Mit den Klischees ist es immer so eine Sache: aber im Moment liegen die fröhlichen Holländer mit wohlverdienter Selbstzufriedenheit im Trend. Unsere Nachbarn sind beim Tanz ums nicht mehr zeitgemäße goldene Kalb, die richtigen Schritte eingefallen - auch wenn diese Harmonie unter dem Zwang der Verhäntnisse entstand.

Die praktischer Vernunft zuneigenden Bürger haben sich in einer 15jährigen Periode des Verzichts und des Umdenkens vom bequemen Leben im Versorgungsstaat verabschiedet. Einem Staat, der an seinen Schulden zu ersticken drohte.

Kurzer Blick zurück: im November 1982 unterzeichneten Gewerkschaftsboss Wim Kok und Arbeitgeberpräsident Chris van Veen den Sozialpakt von Wassenaar. Er enthielt schmerzliche Einschnitte unter dem Motto: weg vom Staat. So wurde zum Beispiel der übliche Inflationsausgleich nicht mehr bezahlt, sondern für den Abbau der Arbeitslosigkeit verwendet, die damals bei sage und schreibe 12% lag. Das war neues Denken.
Wim Kok haben die Niederländer die Fastenkur nicht übel genommen: heute ist er Ministerpräsident in einer breiten Koalitionsregierung und erntet die Früchte mutiger, wenn auch unpopulärer Entschlüsse.
Chris van Veen ist heute Unternehmensberater. Wie war das Rezept damals?

Chris van Veen, ehemaliger Arbeitgeberpräsident
Weg aus Den Haag, der Hauptstadt, zurück in die Unternehmen. Arbeit vor Lohn. Und die Verkoppelung von Lohnverzicht und Arbeitsplätzen. Das war das Geheimnis von 1982.

Wie sieht das im einzelnen aus? Zum Beispiel Arbeitszeit.
Wir sind im Lastwagen-Montagewerk der Firma DAF. Die Belegschaft von 3.600 Personen arbeitet im Durchschnitt 36 Stunden pro Woche, aber wann das ist, das bestimmt die Werksleitung je nach Arbeitsanfall und Auftragseingang. Auf diese Weise kann das Werk stufenlos zwischen 60 und 85 Lastwagen am Tag herstelllen. Gearbeitet wird, wenn Arbeit da ist - das ist die Devise, nicht nur bei DAF. Nur ╛ der Belegschaft hat feste Arbeitsverträge. 15% arbeiten mit Kurzzeitverträgen, 10% in Teilzeit. Der Nachteil: weniger Lohn und keine festgelegte Arbeitszeit.

Han Wagter, Finanzchef DAF
Das niederländische Modell ist bisher in Europa noch einzigartig. Weil wir nicht nur auf kurzfristigen Erfolg aus sind, sondern einen langfristigen Prozeß im Auge haben. Alle Beteiligten, auch die Arbeitnehmer, müssen bereit sein, daran mitzumachen, müssen eine langsame Einkommenssteigerung akzeptieren. Das hat sich in den vergangenen Jahren als einmalig erwiesen.

Paul van der Kappen, Gewerkschaft
Wir sehen, daß immer mehr Leute ihre Arbeit behalten können und daneben viele Menschen, die früher keine Arbeit hatten, inzwischen wieder beschäftigt sind. Deswegen gibt es keine Verlierer. Wenn wir uns nur immer um höhere Löhne gekümmert hätte, wären die Reichen noch reicher, die Armen noch ärmer geworden.

Zweites Beispiel: Arbeitsvermittlung.
Im kleinen Städtchen Roermond gibt es zwar ein offizielles Arbeitsamt, aber daneben 15 private Vermittlungsbüros, bei denen eine Fülle von Angeboten aushängt. Pro Woche vermitteln sie 1.000 Stellen in Kurzzeitarbeit. Jeder zehnte niederländische Arbeitnehmer nutzt regelmäßig diese Dienste. Die Unternehmen können auf diese Weise Spitzenzeiten abdecken, ohne gleich fest anstellen zu müssen. Oft sind die kleinen effizienten Büros jedoch der erste Schritt zum festen Job. Zudem arbeitet in den Niederlanden mittlerweile ein Drittel der Erwerbstätigen unter der durchschnittlichen Arbeitszeit.

Arbeitssuchender
Wenn man arbeiten will, kommt man ins Vermittlungsbüro. Man versucht etwas zu bekommen, und wenn es nur zeitlich begrenzt ist. Aber man braucht ja das Geld.
Nico Philippen, Arbeitsvermittler
Es gibt ein riesiges Stellenangebot. In technischen Berufen fehlen uns Leute.

was wohl?
Capuccino Drittes Beispiel: Altersversorgung
Wir sind in einem Altersheim in Amsterdam, das eher einer Kneipe gleicht. Wie selbstverständlich haben auch andere alte Menschen des Stadtviertels Zutritt. Es herrscht eine Atmosphäre der Toleranz. Die Niederlande haben ein solides System der Altersversorgung. Salopp wird es "Cappuccino-System" genannt. Dieses Cappuccino-System funktioniert so: der Kaffee ist die Grundrente. Sie steht jedem Niederländer zu und beträgt 70% des Mindestlohnes. Auf den Kaffee kommt die Sahne. Das ist die Zusatzrente aus einem Fond, der tariflich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ausgehandelt wird. Zusammen mit der Grundrente kommt man auf 70% des letzten Gehalts. Wer Kakao obendrauf haben will, braucht eine private Zusatzversicherung. Es hört sich gut an, aber für die 350 000 Niederländer, die nur von der Grundrente leben müssen, ist es sehr knapp. Sie haben nur etwa 1.200 Mark in der Tasche. Deshalb ist die Zusatzrente nötig. Deren finanzielles Polster ist hervorragend.

Letztes Beispiel: Lohnfortzahlung im Krankheitsfall
Seit März 1996 ist sie privatisiert, fällt die Volksversicherung weg. Im ersten Jahr trägt der Arbeitgeber die Kosten in Höhe von 70% des Lohnes, wogegen er sich versichern kann. Danach ist wieder der Staat dran, der enorm spart.

Bart J. Bakx, Betriebsarzt
Wenn jemand mit einer stehenden Tätigkeit sich den Knöchel verstaucht hatte, wurde er früher nach Hause geschickt und holte sich sein Geld von der Krankenkasse. Jetzt, da der Arbeitgeber bezahlen muß, versucht man ihm eine sitzende Tätigkeit zu verschaffen, so daß er nicht unnütz nach Hause geschickt wird.

Glückliches holländisches Modell mit kleinen Fehlern.

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