AKTUELL
Kienzle Hongkong in Angst. Am 1. Juli 1997 übernimmt Peking wieder die Macht. Nach 155 Jahren britischer Herrschaft. Viele reiche Hongkong-Chinesen verlassen deshalb den Stadt-Staat Richtung Kanada, Australien oder Neuseeland. Es ist nicht so sehr die Angst vor dem Ende der Demokratie - die haben die Briten erst vor fünf Jahren zugelassen - um die Rotchinesen zu ärgern -. Es ist mehr die Unsicherheit, wie es nach dem Juli æ97 wirtschaftlich weitergeht. Im Augenblick herrscht eine paradoxe Lage. Reiche Chinesen fliehen in Richtung Ausland, arme Chinesen aus der Volksrepublik in Richtung Hongkong, für sie das Paradies. In einem Punkt sind sich Hongkong- und Rotchinesen jedoch einig. Der Wohlstand darf nicht gefährdet werden. Auch in Zukunft nicht durch Armutsflüchtlinge. Chinesischer Pragmatismus. Und deshalb wird die Menschenjagd auch nach der Machtübergabe weitergehen. An der bestbewachten und gleichzeitig durchlässigsten Grenze der Welt.

Hintersetzer Ein Beitrag von Rita Knobel-Ulrich

Man hat gute Chancen, sich die Vorderzähne einzuschlagen als Polizist dieser Spezialeinheit - wenn man sich nicht festhält. "Dafei" nennen die Chinesen diese Boote - wörtlich übersetzt: großes Fliegen. Großes Fliegen ist keine neue Sportart. Die Grenzschützer von der "Anti Smuggler Task Force" trainieren bei 150 Stundenkilometern das Entern von verdächtigen Frachtern. Geschmug-gelt wird auf dem südchinesischen Meer so ziemlich alles: Drogen, Luxusautos, vor allem aber Menschen. Die Genze zwischen Hongkong und China gehört zu den bestbewachten, aber auch zu den durchlässigsten der Welt.
Vier Polizei-Divisionen lauern rund um die Uhr auf die armen Vettern aus der Volksrepublik. Der Zaun wurde gerade für 52 Millionen Hongkong-Dollar renoviert. Und trotzdem ist der Kampf fast aussichtslos.

Richard Frazer, Hongkong Field Patrol Detachment
Im letzten Jahr fingen wir an der gesamten Grenze, das Meer eingeschlossen, etwa 35.000 Illegale. An diesem Abschnitt der Grenze, das sind 37 Kilometer, jeden Tag etwa 15 - 20.
Und warum kommen die?
Sie können hier in zwei bis drei Wochen so viel verdienen, daß sie drüben ein ganzes Jahr davon leben können.

10.000 LKWs am Tag überqueren zwölfspurig die Grenze von China nach Hongkong. Alle sechs Sekunden einer. Die Zollbeamten haben alles: Rönt-genapparate und einen guten Blick für nervöse Fahrer, sie stochern und stöbern, lassen ihre Hunde schnüffeln, kriechen hinter die Ladung, räumen Pakete aus und haben doch selten Erfolg. Etwa die Hälfte derer, die sich auf die Reise zum großen Glück machen, bleibt unentdeckt. Die Bilder sind vertraut: Erinnerungen an die ehemalige DDR-Grenze werden wach. Nur werden hier keine politischen Flüchtlinge an der Flucht gehindert. Hier ver-sucht sich das reiche Hongkong abzuschotten, den armen Bruder daran zu hindern, mit am Tisch Platz zu nehmen.

Ein Grenzer
Ich fange hier pro Woche vier bis fünf Leute, die unterm Wagen hängen.
Tut es Ihnen nicht leid, daß Sie die Flüchtlinge fangen und zurückschaffen müssen?
Nein, ganz bestimmt nicht.

Nur ein paar Kilometer weiter: Volksrepublik China, Wirtschaftssonderzone Shenzhen. In der Volksrepublik ist eine gigantische Wanderbewegung im Gang: Hierher drängen Millionen von Arbeitslosen aus den armen Nordprovinzen. Sie montieren für umgerechnet 100 - 200 DM Monatslohn, im Akkord, rund um die Uhr, Spielzeug für Kaufhausketten in den USA und Europa. Ihre Altersgenossen in Hongkong und Hamburg gehen in die Disco - sie malochen und schicken ihren Lohn nach Hause. In Hongkong könnten sie das Zehn-fache verdienen. Doch Hongkong bleibt ein Traum.

Wo kommen Sie her?
Meine Familie kommt aus dem Norden.
Wie lange arbeiten Sie schon hier?
Ein Jahr.
Und waren Sie schon mal in Hongkong?
Nein, aber würde gerne mal dahin.

Die jungen Frauen leben kaserniert und bewacht auf dem Fabrikgelände. Mittags eine Schüssel Reis und Gemüse und eine Pritsche im Mehrbettzimmer kommen zum Lohn dazu. Der Vorhang am Bett - ein Versuch, wenigstens etwas Privatheit zu retten, wenn man schon zu zehnt in einer Kammer wohnt.

Wie heißen Sie?
Ny Shi.
Und woher kommen Sie?
Meine Familie kommt aus der Provinz Sichuan. Ich bin hier, um Geld zu verdienen.
Waren Sie schon mal in Hongkong oder würden Sie gerne dorthin fahren?
Nein, nie, aber wir alle wollen gern dorthin.

Von der Glitzerstadt Hongkong, von der Möglichkeit, dort als Bettler oder Hure, auf dem Bau oder in der Nähstube schnell Geld zu machen, haben alle schon gehört. Es ist ruhmvoll reich zu werden, hat Deng Xiao Ping gesagt, und wer das allzu wörtlich nimmt, sich auf den Weg ins Glitzerparadies macht - der tritt an gegen raffinierte Technik: gegen Infrarotkameras an der Grenze, ge-gen Teleskope, die auf Körperwärme reagieren, gegen Nachtsichtgeräte, die alle Bewegungen am Zaun wiedergeben. Dann machen sich die Einzelkäm-pfer von der "Hongkong Field Patrol" bereit. Sie legen sich ins Gras und warten, bis der Illegale, erleichtert, daß er den Zaun überwunden hat, auftaucht und zu Tode erschrickt, wenn er den Buschmännern begegnet. Die Nachtpatrouille macht sich auf den Kontrollgang, und jetzt geht auch die Suche auf dem Südchinesischen Meer los.

Hongkong by night
Polizeieinsatz Es sind nicht nur FMTis - Fast moving targets - mit Höchstgeschwindigkeit davonrasende Schiffe, die die Aufmerksamkeit der Spezialeinheit erregen. Oft ist es nur eine harmlos dümpelnde Dschunke, ein kleines Fischerboot, das unter Netzen, Muscheln und Garnelen seine menschliche Fracht verbirgt.
Wir kommen mit dem Polizisten ins Gespräch. China ist kein Land, das die Menschenrechte achtet. Haben sie keine Skrupel, Flüchtlinge abzuschieben? Kommt es nie vor, daß die um politisches Asyl bitten?

Daroll Jones, Anti Smuggler Task Force, Hongkong
Ich arbeite seit 14,15 Jahren in dieser Einheit. In all diesen Jahren ist so ein Fall noch nie vorgekommen. Selbst die Vietnamesen - und davon wird ja heute viel gesprochen - sind Leute, die hierherkommen, um Arbeit zu finden und - ich willÆs mal so ausdrücken, ihren Lebensstil zu verbessern.

Wer es trotz Kontrolle auf der Suche nach Lebensstil bis in Hongkongs Innen-stadt geschafft hat, auf den warten sie schon: die Patrouillen in Kowloon, Nacht für Nacht auf der Suche nach Illegalen, die sich hier unten am Anleger der star ferry gern unauffällig herumdrücken. In Hongkong ist jeder verpflich-tet, einen Ausweis bei sich zu haben, den Nachweis zu erbringen, daß er eine Genehmigung für das Glitzerparadies hat. Und wenn nicht - wie offenbar dieser junge Chinese? Er wird schon morgen früh zurückgeschafft.
Wenn Hongkong nicht mehr Elisabeth der Zweiten, sondern Deng Xiao Ping unterstellt ist? Wird dann die Grenze geöffnet?

Inspector Susanna Chen, Tsim Sha Tsui Police, Hongkong
Nein, ich denke, die Grenze wird bleiben. Das kann auch nicht anders sein. Denn sonst gäbe es eine Menge Probleme für Hongkong, was Jobs und Wohnungen anbelangt. Das wollen die Chinesen aus der Volksrepublik auch nicht und sie werden mit uns kooperieren - da bin ich sicher.

Repatriieren nennt man beschönigend, was sich hier jeden Tag Punkt 14 Uhr abspielt. Die Beute der letzten 24 Stunden wird zurückgeschafft, menschliches Strandgut, Krüppel, die in der Volksrepublik China vor die Hunde gehen. Es sind meist junge Frauen und Männer, heute haben sie Arbeit gesucht, morgen werden sie auf der Flucht vor der Armut erneut hier auftauchen.
Mögen die Chinesen aus der Volksrepublik in einem Jahr den Hongkong-Dollar Yuan nennen und die Queensroad Deng Lu. In einem sind sie sich mit den Kapitalisten einig: Der Wohlstand Hongkongs dürfe nicht durch die Invasion der Armen angetastet werden. Das Boot sei voll. Wie hat Deng Xiao Ping doch gesagt? Es ist ruhmvoll, reich zu werden. Doch bitte nicht in Hongkong.

ZURUECK
ZDF HOMEPAGE
HILFE
KOMPASS
SUCHEN
IMPRESSUM

(ZDF Homepage.Hilfe.Kompass.Suchen.Impressum)


ZDF