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Kienzle Es war wieder ein Negativrekord. 4,15 Millionen Arbeitslose im Dezember. Mindestens 6 Millionen suchen einen Job. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist katastrophal und Besserung nicht in Sicht. Clevere Unternehmer nutzen diese Notlage und locken Arbeitnehmer in die Selbständigkeit. Und immer mehr fallen auf dieses Angebot herein, auch wegen der Aussicht, keine Sozialbeiträge mehr zahlen zu müssen und Betriebsausgaben von der Steuer absetzen zu können. Doch die Betroffenen merken schnell, in welche Misere sie geraten sind - Urlaubsanspruch, Krankengeld - Kündigungsschutz, alles Fehlanzeige. Hunderttausende sind so zur Selbstausbeutung verdammt, mit den Pflichten eines Arbeitnehmers und den Risiken eines Unternehmers. Durch diese Scheinselbständigkeit gehen den Sozialversicherungen Milliardenbeiträge verloren. FRONTAL hat vor einem halben Jahr schon einmal über die Schattenseiten des boomenden Telefonmarketing berichtet. Einer dieser Scheinselbständigen hatte jetzt den Mut vor ein Arbeitsgericht zu gehen.

Hintersetzer




Ein Bericht von Rita Stingl und Thomas Walde

Dies ist eine ganz moderne Geschichte. Es geht um Dienstleistung total.
Rund um die Uhr für den Kunden am Telefon - ein Millionengeschäft - 24 Stunden am Tag.
Aber dies ist auch eine ganz alte Geschichte. Die Geschichte David gegen Goliath. Das ist der David, Metin Kilic heißt er. Er war in der totalen Dienstleistungswelt Telefonist - stets und ständig verfügbar. Bis er auf die Straße gesetzt wurde - von heute auf morgen - aus nichtigem Anlaß. Kilic hat sich gewehrt. Mit Erfolg.

Metin Kilic
Das ist meiner Meinung nach ein Sieg für uns, die von solchen Firmen ausgenommen werden. Es ist, würde ich sagen, eine kleine Pionierarbeit, die da passiert ist.

Das ist der Goliath. Der Walter-Konzern bei Karlsruhe - einer der Großen seiner Branche. Sein Service: Telefonmarketing. Wer in Versandhäusern anruft, um etwas zu bestellen, landet häufig automatisch hier. Rund um die Uhr nehmen die Beschäftigten Anrufe entgegen. Der Lohn ist gering - soziale Sicherheit gibt es nicht: Kündigungsschutz, Urlaubs- oder Krankengeld - Fehlanzeige. Der Trick der Telefonprofis: die Beschäftigten werden in den Arbeitsverträgen nicht als Angestellte, sondern als Selbständige geführt. Als Unternehmer quasi, ohne Rechte aber mit reichlich Pflichten:

Metin Kilic
Es wurde uns gesagt, welche Ablage man benutzen muß, welche Ordner. Wir durften zu bestimmten Zeiten nicht in die Pause gehen, wenn gerade Stoßzeit war und viele Anrufe reinkamen, durften wir nicht auf Toilette gehen, obwohl wir ja auch Freiberufler sind. Wir wurden dazu angehalten, eine Bestätigung zu unterschreiben, daß man unsere Gespräche mit den Kunden abhören darf.

Kilic zieht vorÆs Arbeitsgericht. Der Konzern wehrt sich: Das Gericht sei gar nicht zuständig, weil Kilic kein Arbeitnehmer, sondern Selbständiger war. Das Gericht sieht das anders. In seinem Beschluß, die Klage zuzulassen, stellt es fest:

Zitat: "Der Kläger war weisungsgebunden. Die Beklagte - also die Firma - verfügt ständig über die Arbeitsleistung des Klägers und verlangt dessen Dienstbereitschaft. Auch inhaltlich war die Tätigkeit des Klägers weitgehend weisungsbestimmt. Die Umstände der Erbringung der Dienstleistung sind extrem reglementiert. Der Kläger ist in seiner persönlichen Lebensführung erheblich eingeschränkt, da er während der Dienstzeit nichts essen und lediglich Wasser trinken darf."

Fazit des Gerichts:

Zitat: "Im ... vorliegenden Fall ergibt sich, daß der Kläger Arbeitnehmer war."

Rütger Boeddinghaus, Anwalt
Nach Vorliegen des Beschlusses ist der gute Glaube der Firma daran, daß ihre Verträge tatsächlich halten, und es sich um freie Mitarbeiter-Verträge handelt, zerstört. D. h., die Firma muß jetzt wissen, wenn sieÆs nicht schon vorher gewußt hat, daß sie Arbeitnehmer beschäftigt und daß sie u.a. verpflichtet ist, Sozialversicherungsbeiträge abzuführen.

Auf Einsicht hofft man bei der Firma aber wohl vergebens. Auf unsere Anfrage, wie sie den Beschluß des Arbeitsgerichts bewertet, antwortet sie lapidar.

Zitat: "An einem Interview sind wir nach wie vor nicht interessiert. ... Wir hoffen nur ..., daß Sie deutlich machen, daß es nicht ein Thema spezifisch unseres Hauses ist, sondern Hunderte von Unternehmen in Deutschland betrifft, aus den verschiedensten Branchen. Gerade in unserer Branche, die alleine aus ca. 150 Agenturen besteht, ist ja die freiberufliche Beschäftigung durchgehend anzutreffen."

Rütger Boeddinghaus, Anwalt
Für die Behörde besteht zwingender Handlungsbedarf, weil die Behörden gesetzlich verpflichtet sind, für die Beitreibung der Sozialversicherungsbeiträge zu sorgen.

Tag&Nacht
Nacht&Tag Jetzt also sind die Behörden dran. Im Arbeitsamt Karlsruhe etwa, haben sich die Fachleute schon öfter überlegt, was sie gegen Scheinselbständigkeit machen können. Bislang ohne Ergebnis, weil es sehr schwer ist, sie im Alltag zu beweisen. Das könnte sich jetzt, nach dem Beschluß des Arbeitsgerichts, ändern.

Ingo Zenkner, Arbeitsamt Karlsruhe
Also den von Ihnen vorgelegten Beschluß bewerte ich sehr positiv. Er bestärkt uns in unserer Auffassung, daß hier bei bestimmten Firmen doch eine Scheinselbständigkeit vorliegt, d. h. daß Arbeitnehmer abhängig beschäftigt sind - und wir werden erneut in Überprüfungen dieser Arbeitsverhältnisse jetzt im Zusammenwirken mit anderen Behörden eintreten.

Denn böswilliges Hinterziehen von Sozialabgaben ist sogar strafbar. Wenn die Behörden jetzt tatsächlich entschlossen dagegen vorgehen, droht der Firma, daß sie Sozialabgaben für viele Beschäftigte für viele Jahre nachzahlen muß. Kein Einzelfall. Immer mehr Firmen nutzen die Lage auf dem Arbeitsmarkt aus.

Ingo Zenkner, Arbeitsamt Karlsruhe
Die Nischen, in die die Arbeitnehmer noch einmünden können, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, werden immer kleiner. Eine Nische ist diese Selbständigkeit, diese Scheinselbständigkeit - und sie wird auch im Grunde immer öfter geduldet, weil man froh ist, die Personen in einem Beschäftigungsverhältnis zu haben. Auch wenn es nicht sozialversicherungspflichtig ist und nicht hier in den Arbeitsämtern, auf den Fluren, als diejenigen, die gar keine Arbeit mehr haben.

Ein Zwiespalt - und doch: Gut möglich, daß ein Millionengeschäft jetzt ins Rutschen kommt. Fachleute sagen, daß die enormen Zuwächse und Gewinne der letzten Jahre in der Branche ganz wesentlich darauf beruhen, für Beschäftigte keine Sozialabgaben zu zahlen.
Und der David Metin Kilic? Er hat von der Firma eine Abfindung erstritten - Geld, das er jetzt nutzen will, um sich wirklich selbständig zu machen, in seinem erlernten Beruf als Schuhmacher.

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