Wie Besetzungs-Chef Horst D. Scheel die Schauspieler für die "Lindenstraße" sucht - und findet
Er holte Gabi Zenker (Andrea Spatzek) und Onkel Franz (Martin Rickelt), brachte Anna Ziegler (Irene Fischer) und Hans Beimer (Joachim Hermann Luger) in die "Lindenstraße" und gilt als Mann mit dem Blick fürs wesentliche: Horst D. Scheel ist der Besetzungs-Chef (neudeutsch: Casting Director) für die "Lindenstraße". Seit mehr als elf Jahren reist er kreuz und quer durch die Lande, hält Ausschau nach Köpfen und Charakteren, merkt sich tausende Gesichter. Und findet sie immer wieder: Schauspieler, die das Bild der "Lindenstraße" prägen.
Dabei ist die Auswahl mitunter schwierig. Denn bei der "Lindenstraße" sind - zumindest was die Ausgangsposition für die Schauspieler betrifft - "keine Stars, sondern die Nachbarn von nebenan gefragt", erklärt Scheel. So, wie es das Konzept von Deutschlands erfolgreichster TV-Serie vorsieht. In der Praxis heißt das: "Man zieht nicht durch die Theater und sucht den neuen Heinz Rühmann, sondern jemanden, der den Großvater in Familie X spielen kann." Daß dieser Großvater fast dieselbe Berühmtheit wie Rühmann oder andere Stars erhalten kann, liegt in der Natur der "Lindenstraße": Sonntag für Sonntag schalten im Schnitt rund acht Millionen Zuschauer Deutschlands bekannteste und erfolgreichste Dauerserie ein.
Zurück zur Rollenbesetzung. Schwierig, erinnert sich der Mann mit der Nickelbrille, war die Zeit vor dem Start der Endlosserie. "Es hagelte Absagen, weil kaum jemand an der Erfolg der ,Lindenstraße' glauben mochte", sagt Scheel. Dazu kam das - nach wie vor aktuelle - Problem, daß sich nicht alle Schauspieler für so lange Zeit auf eine ganz bestimmte Rolle festlegen möchten. Zumal außer den Autoren niemand weiß, wie sich die Figuren letztendlich weiter entwickeln.
Dennoch können sich Scheel und mit ihm die "Lindenstraße"-Produktionspartner Geißendörfer Film- und Fernsehproduktion (GFF) sowie der Westdeutsche Rundfunk vor Anfragen kaum retten. Über 8000 Namen sind mittlerweile in der Kartei registriert, und pro Monat kommen über 100 Briefe und Bewerbungen hinzu. Das Problem: "Es bewerben sich auffallend viele schauspielerische Laien, die meinen, sie könnten ihren Alltag genauso gut im Fernsehen leben und spielen." Andererseits, so Scheel, zeige diese Einstellung, wie realitätsnah und ausdrucksstark das "Lindenstraße"-Ensemble eben jenen Alltag der Nachbarn von nebenan im Fernsehen vermittele.
Besonders aufwendig sind die Besetzungen der Hauptrollen. Klar, daß Horst D. Scheel auch die "Storylines" - also die zukünftige Weiterentwicklung der Handlungsstränge - kennt. So spricht er denn auch als erstes mit dem Autorenteam darüber, was mit den einzelnen Figuren passiert und welche Anforderungen und Profile jetzt und in Zukunft gefragt sind.
Danach trifft Scheel eine Vorauswahl. Sein Vorteil: "Geißendörfer gab mir fast von Anfang an freie Hand. Ich kann also nach eigenem Empfinden die infrage kommenden Schauspieler auswählen und ansprechen." Hat er die richtigen gefunden, werden Probeaufnahmen gemacht. Die "Kandidaten" müssen dabei Textteile aus künftigen Folgen der "Lindenstraße" sprechen - jene Teile, die die Rolle betreffen. Nach dieser Vorauswahl hat Scheel meist sieben oder acht Namen auf seiner Liste. Gemeinsam mit Hans W. Geißendörfer und der WDR-"Lindenstraße"-Redaktion, manchmal auch mit der Regie, kommen daraus einige wenige Akteure in die engste Wahl. Das letzte Wort in Sachen Besetzung hat stets "Lindenstraße"-Erfinder und -Produzent Hans W. Geißendörfer.
Casting, betont Scheel, ist harte Arbeit. Gleichzeitig räumt er mit dem alten Vorurteil von der Besetzungs-Couch auf. "Wer meint, durch körperliche Vorzüge oder körperlichen Einsatz an eine Rolle zu kommen, ist völlig schief gewickelt. Das hat mit professioneller Arbeit gar nichts zu tun."
Daß rund 90 Prozent aller Casting-Leute Frauen sind, hält Scheel für keinen Zufall: "Bei diesem Beruf braucht man sehr viel Intuition und Sensibilität. Und diese Eigenschaften spricht man nunmal eher Frauen zu." Scheel hat es - trotzdem - geschafft und zählt heute zur Casting-Elite in Deutschland. Wie vieles andere auch ist Casting ein Beruf mit Licht und Schatten. "Einerseits", so Scheel, "ist es schon sehr befriedigend, wenn die Rollen wirklich optimal besetzt sind." Andererseits habe er heute praktisch kein Privatleben mehr. "Egal ob Kneipe, Café oder auf der Straße: Ich kann nirgendwo mehr hingehen, ohne angesprochen zu werden. Das ist schon sehr nervig."
Dabei ist Scheel die Rolle als "Beichtvater" von früher noch bestens bekannt. Denn der Weg zum Casting-Director führte ihn geradewegs durch die Bars und Restaurants der Welt - wohlgemerkt als Kellner und Barmann. Nachdem sich eine Lehre als Verlagskaufmann zerschlagen hatte, begann Scheel eine Kellnerlehre in einem Düsseldorfer Hotel. Eine seiner ersten Aufgaben war es damals, ein Glas Whisky auf das Zimmer einer sehr berühmten Schauspielerin zu bringen. Durch diese Begegnung geriet der Mann, der ursprünglich Bibliothekar werden wollte, in die Welt des Theaters, des Films und des Fernsehens.
Denn praktischerweise stiegen Schauspieler, die damals im Theater auftraten, in besagtem Hotel ab. Was Scheel viele Kontakte und die Einsicht brachte, es doch einmal im Hotelmanagement zu versuchen. So wechselte er wenige Zeit später nach Berlin, um ein Praktikum zu absolvieren. Der Zufall wollte es, daß der Hotelbesitzer ein Luxusrestaurant eröffnete und einen gestandenen Mann für die Bar brauchte. Scheel war dieser Barkeeper.
Binnen kürzester Zeit bediente er hier von Romy Schneider und Curd Jürgens bis Elsa Wagner "alles, was in Deutschlands Schauspielzunft Rang und Namen hat". Außerdem lernte Scheel viel über die Psyche von Schauspielern kennen - eine Erfahrung, die ihm noch heute zugute kommt.
Die Geschichte, wie er zu seinem ersten Casting-Job kam, hört sich dagegen an wie in einem Roman. Zurück in Berlin und als Erster Barmann in einer Schwimmbad-Bar tätig, sprach ihn eines Tages ein amerikanischer Produzent an, der von der profunden Filmkenntnis Scheels - damals war er mindestens einmal täglich im Kino und verschlang alle erreichbare Fachliteratur - begeistert war. Kurze Rede, guter Sinn: Scheel durfte für eine amerikanische Produktion die Schauspieler betreuen und arbeitete sich so ins Casting ein. Es folgten zahllose Produktionen, so unter anderem "Versteckt" oder "Just a Gigolo", bei denen Scheel fürs Casting zuständig war. Auch heute betreut er neben der "Lindenstraße" zahlreiche Fernseh- und Kinoproduktionen im In- und Ausland.
Dennoch gehört die "Lindenstraße" nach wie vor zu seinen liebsten "Kindern". Wohl auch, weil er hier sein schauspielerisches Talent pflegen kann. So ist der stets verschnupfte Hausverwalter Hülsch, der die Bewohner des Hauses Lindenstraße 3 in unregelmäßigen Abständen nervt, niemand anders als Horst D. Scheel persönlich.
Ganz bewußt wandelt der Casting Director damit auf den Spuren von Hitchcock, denn: "Für diese Rolle habe ich leider keine bessere Besetzung gefunden!"