Man sieht nur, was man weiß" (J.W. Goethe). Dieser Leitsatz für neugierige Reisende hat in einer so uralten Kulturlandschaft wie dem Nationalpark besondere Gültigkeit. Deshalb einen kurzen Abstecher in die Vergangenheit. Wir müssen ja nicht gleich ganz in die ungemütlichen Anfänge zurückgehen, denn wie sich vor 50 bis 100 Millionen Jahren die Erdkruste aus dem Urmeer erhoben und zu dem gewaltigen Felsriegel gefaltet hat, entzieht sich ohnehin unserer Vorstellungskraft. Und auch, daß in den darauffolgenden Jahrmillionen Wasser, Wind und Gletscher die Gesteinsmassen abschliffen und später in der Eiszeit die typischen Trogtäler ausfrästen, können wir nur staunend zur Kenntnis nehmen.
Greifbarer wird die Geschichte, wenn wir auf unserer Zeitreise in den Jahrhunderten vor Christi Geburt Station machen. Damals siedelten sich am Fuße des Hochgebirges bereits Menschen an. Sie holten Erze aus dem Berg und betätigten sich zugleich als erste Bergbauern. Rund zwei Jahrtausende später war die Region dann wirtschaftlich von gesamteuropälscher Bedeutung. Zum einen wegen des sogenannten Saumhandels: Über die Tauernpässe, die schon den Kelten und Römern als Nord-Süd-Übergänge gedient hatten, führten sämtliche Transportwege zwischen Venedig und Deutschland.
Auf den Rücken der eigens gezüchteten Noriker-Pferde wurden jährlich hunderte Tonnen Ollvenöl, Weine, Gewürze und Seide nach Norden, und Salz, Leder, Häute und Holz in die Gegenrichtung geschleppt. Der zweite Grund war ein Goldrausch, der fast 200 Jahre lang in den Hohen Tauern rassierte und dem Erzbistum Salzburg zu ungeheurem Reichtum und zum Beinamen "Kleines Peru der Alten Welt" verhalf. In der Blütezeit förderten hier mehr als 2000 Männer jährlich zehn Prozent der Weltproduktion.
Doch auf die Idee, die ausgetreten Pfade zu verlassen, oder gar einen der über 300 Dreitausender erklimmen, kamen weder Knappen noch Säumer. Dies wagten erst an der Wende vom 18. um 19. Jahrhundert Wissenschaftler, die nach neuen Erkenntnissen suchten. Ihnen folgten bald sportive, abenteuerlustige Städter und, in ihrem Gefolge, ortsansässige Bergführer die Pioniere des alpinen Fremdenverkehrs.
Seither wurden, so möchte man meinen, der Gebirgswelt sämtliche Geheimnisse entlockt. Doch wandern Sie einmal frühmorgens, wenn die Nebelschwaden ziehen, durch eine Moorlandschaft wie den Rauriser-Urwald. Zwischen den fadenbärtigen Lärchen und den von Moosen und Gräsern überwucherten Felsen wird Ihnen nicht mehr ganz unmöglich erscheinen, einer der sagenhaften Feen- oder Hexengestalten zu begegnen.
Oder lassen Sie sich von einem der Hüttenwirte bei mein heißen Schnapstee von den Wetterphänomenen oben im Hochgebirge erzählen: Von den Nebelschatten, den Elmsfeuern und dem furchtrregenden Geheul der Orkane. Dann werden auch Sie zu glauben beginnen, was Brauchtumsforscher seit langem argwöhnen - daß nämlich manche lautstarke Traditionen, etwa das Schießen der Schützen oder das gemeinsame Blasmusikspielen in dem unbewußten Wunsch wurzeln, Geister und Dämonen zu verscheuchen.