Peter Glaser CUNST UND CHAOS Vortrag, gehalten anl„álich des Symposions "Ordnung und Chaos" im Oktober 89 in Graz Als erstes m”chte ich Sie um Nachsicht dafr bitten, daá ich Ihnen weniger vortragen als vielmehr vorlesen werde. Das liegt daran, daá ich Schriftsteller bin und sehr an meinen Worten h„nge - wenn Sie mir das als Ausrede dafr gestatten, daá ich in der freien Rede nicht sehr gebt bin. Aus dem selben Grund werden Sie von mir wenig ber die naturwissenschaftlichen Hintergrnde geordneter, fraktaler und chaotischer Gebilde erfahren.Meine Wissenschaft ist die Poesie, und eine der zuverl„ssigsten Methoden dieser Wissenschaft ist das Geschichtenerz„hlen. Ich werde Ihnen also eine Geschichte erz„hlen. Ich bin sicher, daá meine Vorliebe fr bestimmte Formen von Chaos damit zu tun hat, daá ich nicht zeichnen kann. Der Begriff "Formen von Chaos" mag auf den ersten Blick in sich widersprchlich scheinen; ich komme noch darauf zurck. Mein grafisches Talent hat nie weiter gereicht als bis zu forcierten Strichm„nnchen. Allerdings habe ich seit jeher gern gegenstandslose Muster gezeichnet. Im Mathematikunterricht ist mir deshalb nicht die Arithmetik, sondern immer die Geometrie der vergngliche Teil gewesen. Mit Hilfe von Zirkel und Lineal lassen sich klare Formen zu Papier bringen. Anl„álich der Konstruktion von Vielecken hat uns unser Mathematikprofessor einmal darauf aufmerksam gemacht, daá es noch keine exakte L”sung zur Konstruktion eines regelm„áigen Siebenecks mit Zirkelschl„gen gibt. Das Problem hat mich einige Nachmittage lang gefesselt. Ich will gestehen, daá ich motiviert war von der Aussicht, gegebenenfalls einen Nobelpreis dafr einzukassieren. Das Ergebnis waren zwei Zirka-Zirkell”sungen sowie keine Beweisfhrung; Spaá gemacht hat's trotzdem. Auf diese Weise ist mir auch die Entt„uschung erspart geblieben, allzufrh erfahren zu mssen, daá es keinen Nobelpreis fr Mathematik gibt. Das war es jedenfalls, was mich fasziniert hat: Geometrische Zeichnungen, durchzogen von Koordinatenkreuzen, Hilfslinien und kleinen B”gen von der zu einer scharfen Kante angefeilten Zirkelmine, die sich am gewnschten Punkt schneiden. Die richtige Entdeckungslust ist aufgekommen, wenn es danach daranging, ber die bekannten Schritte hinaus eigene Spielereien und Untersuchungen zu den verborgenen Gesetzm„áigkeiten geometrischer Figuren zu unternehmen. Die Frage beispielsweise, was sich ergibt, wenn man jetzt mal DIESE beiden Punkte miteinander verbindet, die Gerade halbiert und eine Normale durch den Halbierungspunkt mit dem Rand schneidet... Aha, interessant. Oder wenn wir DIESEN Winkel und JENEN Winkel halbieren, nein, sagen wir: dritteln, und die beiden neuen Schenkel kreuzen... Sehr merkwrdig. DAS Stck hier sieht aus wie DIESES, und DIESE Fl„che entspricht bemerkenswerter Weise JENER Fl„che. Aha, aha. Wieder etwas entdeckt. Vor dem Hintergrund der groáen Traditionen, die arabische und griechische Mathematiker durch die Jahrhunderte gefhrt haben, k”nnte ich heute sagen: Bei diesen Reisen durch die Meere von Polygonen, Winkeln und Kreisen habe ich mich gefhlt wie Sinus, der Seefahrer - was auch heiát: es war eine alles andere als trockene Angelegenheit -, oder wie Odysseus, bezircelt respektive bezirkelt, und das floureszenzgrne Plastiklineal - bereit zu neuen Abenteuern - in der Hand. Damals habe ich einen Schatz fr mein Bewuátsein entdeckt: Den Reichtum und den belebenden Geist der Formen. Die Elemente der klassischen, euklidischen Geometrie haben etwas beraus Beruhigendes. Sie vermitteln ein starkes, unverbindliches Gefhl von Ordnung, und sie sind ebenm„áig, sauber und anspruchslos. Sie fangen keinen Staub, man braucht sie nicht zu fttern oder zu gieáen und nicht mit ihnen ber's Taschengeld zu streiten - mit einem Wort: Sie machen keine Probleme. Um mit ihnen umzugehen, braucht man sie nur zu lernen. All die Geraden, Kurven und Kreise, die Vierecke und Vielecke, Kugeln und Kegel, Oktaeder und Sph„renschnitte haben eines gemeinsam: Es sind Idealgebilde. Sie sind vollkommen knstlich; wie weit sie im universellen Sinn vollkommen sind, ist eine philosophische Frage -Die lautet: Gesetzt den Fall, es gibt eine Vollendung - In welchen Formen wird sich das Universum zu einer m”glichen gr”áten Ordnung oder eben Form-Vollendung fgen? Den Formen der Kultur oder den Formen der Natur? Den Formen, die der Mensch in alle Welt gestaltet oder Den Formen, in die sich menschenlos die Welt entfaltet? ... ...um mit den Worten des Dichters zu fragen. Es war fr mich eine bemerkenswerte Beobachtung, die ich erst im Zusammenhang mit den eingangs erw„hnten besonderen "Formen von Chaos" gemacht habe: Daá man n„mlich die reinen euklidischen Formen in der Natur seltener findet als Diamanten. Exakte Kreise, Geraden, Kugeln oder Wrfel kommen in der Natur praktisch nicht vor. Sie werden jetzt vielleicht fragen: Was ist mit Kristallformen? Das sind doch Ausbnde an Regelmaá. Vielleicht haben Sie wie ich als Kind einmal versucht, in einem groáen Marmeladeglas aus einer heiáen, bers„ttigten L”sung aus Kochsalz oder blauem Kupfersulfat an einem Stck Zwirn einen Kristall zu zchten. Man l„át dazu das Glas mit der L”sung m”glichst erschtterungsfrei ein paar Wochen in einem Regal stehen und kann Tag fr Tag die Fortschritte sehen, die die Kristallisation macht. Sch”n sind sie alle, aber keiner der Kristalle ist vollkommen. An jedem sind Einschlsse oder Verwachsungen; manchmal zweigen kleinere Kristalle an einer Stelle aus, oder aber es w„chst kein einzelner Kristall, sondern ein Nest, ein Strauch oder eine kristalline Traube. Die Unregelm„áigkeiten bilden sich an kleinen und kleinsten Bruchstellen aus. "Bruch" oder "gebrochen" heiát im englischen "Fractal". Betrachtet man in diesem Zusammenhang eines der ersten und eindrucksvollsten Monumente menschlicher Kultur, die groáen alt„gyptischen Pyramiden, so erscheinen sie einem als ein Bild fr den Willen des Menschen, den Formen der Natur seine eigenen, geraden und von jeder geologischen und biologischen Unregelm„áigkeit bereinigten Formen gleich in der Gr”áe von Bergen entgegenzustellen. Die Faszination an der klassischen Geometrie lag fr mich wie fr viele andere in einer Lust an der reinen Form. Sie gibt nicht nur einem Kind die M”glichkeit, sich den Sorgen und Unw„gbarkeiten der Alltagsrealit„t zu entziehen und sich stattdem in eine Welt zu begeben, die nur aus phantastischen R„ndern besteht, aus schnurgeraden oder elegant geschwungenen Bleistiftlinien, die ein Gefhl von Pr„zision vermitteln und eine streng gefaáte Pracht entfalten. Ob Fl„che oder K”rper - ein wenig Rand und ein wenig Vorstellungskraft gengen, um Form und Volumen zutage treten zu lassen. Jemand, dessen Namen mir leider entfallen ist, hat einmal gesagt: Die Mathematik beschreibt eine Welt ohne Geschichte. Fr mich war die Geometrie ein erholsamer Raum, in dem sich die schn”de Frage nach dem "Wozu?" nicht stellt. Sie hat nichts von mir verlangt, als daá ich sie, wenn ich m”chte, erkunde. Den Antrieb zu diesen Erkundungen leistet eine bodenlose Neugier, in der sowohl die Wissenschaft als auch die Kunst eine gemeinsame Wurzel haben. Die etwas absurd anmutende Metapher von der 'Wurzel im Bodenlosen' verwende ich nicht ohne Absicht. Sie beschreibt mit poetischer Methode, was die Mathematiker 'fraktale Formen' nennen. Diejenigen von Ihnen, die sich mit diesem Thema schon eine Weile besch„ftigen, oder die einige der Vortr„ge in den zurckliegenden Tagen besucht haben, kennen die filigranen Wurzelf„den ins bodenlos Unendliche am Rand von Objekten wie der Mandelbrot-Menge aus eigener Anschauung, vielleicht auch das Sprieáen graphtaler Pflanzen, oder die computergrafischen Korallen, die durch die Anlagerung zufallsgesteuerter Partikel wachsen. Um auch denjenigen unter Ihnen, die sich beispielsweise mit der detaillierten Nachbildung von Naturformen auf mathematischem oder computerisiertem Weg noch nicht auseinandergesetzt haben, ein n„heres Verst„ndnis zu vermitteln, m”chte ich einen weiteren Teil meiner Geschichte erz„hlen. Mein Vergngen an der Geometrie und auch mein damaliger Wunsch, Naturwissenschaftler zu werden, hat sich in dem Alter verloren, in dem man anf„ngt sich fr M„dchen zu interessieren. Ein wenig verkrzt gesagt, muáte ich die Beobachtung machen, daá M„dchen es nicht besonders aufregend finden, wenn man versucht, sich mit ihnen ber Vektorr„ume zu unterhalten, daá sie einem aber ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenken, wenn man ihnen beispielsweise etwas auf der Gitarre vorspielt. Also habe ich die Mathematik vernachl„ssigt und angefangen, Gitarre zu spielen. So bin ich in die Kunst gerutscht. Eine typisch fraktale Stelle in meiner Biographie. Das soll jetzt nicht heiáen, daá ich ein Knstler auf der Gitarre gewesen w„re. Es war damals sehr beliebt, amerikanische Folksongs zu spielen und sich mit der Lebensart der "Hobos" zu identifizieren, die auf Gterzge aufsprangen und durch die Vereinigten Staaten vagabundierten. Ich bin ja hier in Graz aufgewachsen, und nachdem ich zu der Einsicht gelangt war, daá sich eine steirische Version der Hobo-Lebensweise nur sehr ungengend realisieren l„át und auch kein berw„ltigendes Gefhl von Freiheit entsteht, wenn man auf die Graz-K”flacher-Bahn aufspringt und bis Premst„tten mitf„hrt, habe ich mir ein neues Metier gesucht und angefangen zu schreiben. Ich will Ihnen jetzt nicht erz„hlen, wie ich ein Schriftsteller geworden bin (was im brigen eine Lieblingsbesch„ftigung von Schriftstellern ist). Nur soviel, daá es dabei darum gegangen ist, etwas zu erleben, das erz„hlenswert ist, und vor allem: eine FORM zu finden, die der Natur des Erlebten in den wesentlichen Einzelheiten entspricht. So wie Mathematiker bis zur endgltigen Entdeckung von Benoit Mandelbrot die Auffassung vertreten haben, daá es im Bereich der komplexen Zahlen eine geschlossene Zahlenmenge geben muá, versuchen Schriftsteller unter Beweis zu stellen, daá es im komplexen Bereich des Erlebten GESCHICHTEN gibt, die in eine jeweils eigene Form geschlossen sind. Meine Geschichte geht jetzt weiter zu einer Zeit, die mehr als zehn Jahre nach dem šbergang von der Geometrie zur Gitarre liegt. Es war zu Anfang der achtziger Jahre, und damals habe ich bei einem Freund zum ersten Mal einen Mikrocomputer gesehen. Das war fr mich in mehrfacher Hinsicht ein Erweckungserlebnis. Zum einen war das eine Art Schreibmaschine, mit der man Musik, jedenfalls aber ernstzunehmenden L„rm machen konnte. Ich muá dazu vielleicht noch sagen, daá ich immer mit Musikern zusammengewesen bin und die Musiker stets um ihr aufwendiges und effektvolles Equipment beneidet habe. Kein Schriftsteller wird jemals in einer Halle, die 20.000 Besucher faát, mit seiner Schreibmaschine auf der Bhne sitzen. Ein Mikrocomputer war da schon ein gewisser Fortschritt. Zum anderen geh”re ich einer Generation an, die mit dem Fernsehen aufgewachsen ist. Das Fernsehen und alle nachfolgenden Formen von Unterhaltungselektronik, oder wie man heute etwas monstr”s sagt: Kommunikationstechnologien, haben nach dem Einbahnprinzip funktioniert, vom Telefon einmal abgesehen. Es waren Konsumiertechnologien. Ein Fernseher war fr mich bis zu diesem Zeitpunkt ein Ger„t, an dem ich nicht mehr machen konnte, als ein- oder auszuschalten, lauter oder leiser zu drehen, und eben anzusehen, was geboten wurde. Die Bildr”hre und das Vakuum darin waren ein unzug„nglicher Raum, in den die groáen Sendeanstalten von auáen das Programm einspeisten. Als ich dann zum ersten Mal vor dem Mikrocomputer meines Freunds saá, tippte ich "HALLO" ein und es erschien sofort vor mir auf dem Bildschirm, einem alten Schwarzweiá- Fernseher. Was ich geschrieben hatte, war also sofort im Fernsehen zu sehen. Ich war begeistert. Die kleine Plastiktastatur, in der nach Auskunft meines Freunds der ganze Computer untergebracht war, hatte es mir m”glich gemacht, in das Vakuum der Bildr”hre einzudringen und wie bei einer Hinterglasmalerei etwas auf den Bildschirm zu zaubern. Nicht zuletzt stand pl”tzlich mit dem kleinen Apparat ein zentraler Mythos des 20. Jahrhunderts zur pers”nlichen Verfgung: Der Computer eben. Ein paar Wochen sp„ter stand mein eigener HighTech-Bonsai auf dem Schreibtisch. Wieder eine typisch fraktale Stelle in meiner Geschichte; diesmal darf ich sie ganz zurecht so bezeichnen. Es war das Jahr, in dem Herr Mandelbrot die Menge ausfindig gemacht hat, die seinen Namen tr„gt, und die man im Deutschen wegen ihrer eigenwilligen Form "Das Apfelm„nnchen" nennt. Davon wuáte ich allerdings noch nichts. Ich hatte erst einmal die obligaten fiebrigen Kinderkrankheiten durchzustehen, die fast jeden Computereinsteiger befallen. Dazu geh”rt eine manische Programm-Sammelwut, dazu geh”rt die Videospielsucht, die in extremen F„llen zu einer k”rperlichen Deformation der rechten Hand fhren kann, die Mediziner als "Joystick-Klaue" bezeichnen, und die in jedem Fall dazu fhrt, daá man nicht einschlafen kann, weil der PacMan auf der Netzhaut als flimmerndes Nachbild noch viertelstundenlang weiterkrabbelt, und dazu geh”rt die Programmierwut, die in den ersten Monaten ihre treibende Kraft haupts„chlich aus der Tatsache bezieht, daá man mit Hilfe eines Computers nicht nur tausende von Problemchen pro Sekunde l”sen kann, sondern auch tausende von Problemchen pro Sekunde erzeugen. Ich will Ihnen aber auch die Geschichte ersparen, wie ich im Lauf der letzten acht Jahre zum Computer-Enthusiasten geworden bin und stattdem, wie es sich fr einen Schriftsteller geh”rt, etwas ber die neuen Sprachen erz„hlen, die ich am Computer kennengelernt habe: die Programmiersprachen. Die Form, in der man dem Computer mitteilt, was er im Einzelnen zu tun hat, weist unmittelbar darauf hin, daá die Maschinen ursprnglich fr's Milit„r entwickelt worden sind. Die Codes sind rein imperativisch. Es sind Befehlsreihen. Die Annahme, man k”nne einer Maschine ohne alle moralischen Bedenken Befehle erteilen, erweist sich brigens in unseren Tagen als zunehmend verh„ngnisvoll, da durch die exponentielle Verbreitung und Vernetzung der Mikroelektronik die Computer jeden von uns auch in seinem pers”nlichen Lebensbereich berhren. Es wird Zeit, menschenfreundliche Programmiersprachen zu entwickeln. Etwas, das mir an den konventionellen Programmiersprachen noch aufgefallen ist, hat damit zu tun, daá ich eigentlich keine Gedichte schreibe. Meine Disziplin ist die Prosa. Umso erstaunter war ich, als ich, nachdem ich schon drei Jahre vor mich hin programmiert hatte, einmal einen zweiten Blick auf ein langes, ausgedrucktes Programmlisting geworfen habe. Pl”tzlich hatte ich vor Augen, wie sehr die Form, in der Computerprogramme geschrieben werden, mit Form und Zeilenfall des klassischen Epos bereinstimmt. Es sind moderne Langgedichte. Dazu kommt noch, daá es in jeder Programmiersprache sogenannte Schleifenanweisungen gibt, um Befehle zu wiederholen - also Refrains. Insgesamt hat sich inzwischen mein Eindruck best„rkt, daá die Programmiersprachen ihre Herkunft in uralten Beschw”rungen haben. Es sind Beschw”rungsformeln - ein traditionell unverst„ndliches Brimborium fr den Uneingeweihten, das, vom Magier richtig angewendet, phantastische Illuminationen auf der Oberfl„che der Kristallkugel erscheinen l„át. Statt Kristallkugeln verwenden wir heute Bildschirme, der Effekt ist derselbe. Die hintergrndige Verheiáung, mit Hilfe eines Computers zaubern zu k”nnen, verbindet sich bei vielen, die in den ersten Monaten einem Rechner gegenbersitzen, mit Allmachtphantasien, nun eine universelle Maschine zur Verfgung zu haben, die alles beherrschbar macht. Das Gefhl von Omnipotenz legt sich zwar, wenn man feststellt, daá bei weitem nicht jede Operation in Echtzeit ausgefhrt wird, daá man mit einem kleinen Registerbchlein bei der Verwaltung von Telefonnummern wesentlich effizienter ist als mit einem entsprechenden Programm, und daá es auch nicht ausreicht, einfach alle Paáworte von Aal bis Zyklop auszuprobieren, um in das Computernetzwerk des Pentagon einzudringen - aber die Verlockung, ein biáchen Lieber Gott zu spielen, bleibt. Mich hat diese Verlockung dazu gebracht, die alte Liebe zur Geometrie wieder aufzufrischen. Wie ich, so sind viele Menschen fasziniert von der M”glichkeit, bewegliche dreidimensionale Konstruktionen mit Computerhilfe ausfhren zu k”nnen. Das geht auf einem Blatt Papier nicht mehr. Nachdem sie ein oder zwei H„user, ein einfaches Flugzeug oder irgendwelche futuristischen Objekte konstruiert haben, entsteht in den meisten dieser Menschen interessanter Weise das unbez„hmbare Bedrfnis, einen r„umlich ausgeformten Menschen am Bildschirm darzustellen und vielleicht sogar animieren zu k”nnen. Ich wollte das auch versuchen. Am Ende einer l„ngeren Folge von Vorberlegungen und Absch„tzungen des Arbeitsaufwands habe ich mein ursprngliches Computermensch-Projekt von einem ganzen K”rper und Kopf erst auf einen Arm - zum šben -, dann auf eine Hand, und schlieálich auf einen Finger reduziert. Es ist ein ungeheurer Aufwand n”tig, um auch nur eine Andeutung von Detailtreue und Realismus in ein Computerszenario zu bringen, das auf den Prinzipien der euklidischen Geometrie beruht. Als sich nach einer Woche intensiver Arbeit ein aus drei Drahtgitter-Kl”tzchen geformter Finger auf meinem Bildschirm krmmte und streckte, war ich nicht entt„uscht. Ich hatte mich eingehend wie noch nie zuvor mit der Motorik meiner Hand, den Bewegungsfreiheiten, den Proportionalit„ten des Muskelzugs und einigen anderen Dingen befaát und ber den Versuch, ein winziges Stckchen daraus auch nur oberfl„chlich nachzubilden, einen neuen Blick fr die Komplexit„t der Natur gewonnen. Das war in der Zeit, in der die ersten farbenpr„chtigen Bilder des Apfelm„nnchens kursierten, inzwischen unangefochtener Popstar unter den Fraktalen. Jemand erkl„rte mir, das habe mit Chaosforschung zu tun, wobei ich allerdings noch keinen Zusammenhang herstellen konnte zwischen Chaos vulgo vollkommener Unordnung, und den eindrucksvollen Ver„stelungen und Protuberanzen, die am Rand dieses sonderbaren schwarzen Schlssellochs zu sehen waren. Wenig sp„ter kursierten die ersten Progr„mmchen, mit denen sich diese Bilder selbst erzeugen lieáen. Jeder Computerfreak, der etwas auf sich hielt, rechnete Apfelm„nnchen-Ausschnitte. Es mssen Abertausende von Wissenschaftlern, Studenten und Computerbegeisterten gewesen sein und vielleicht immer noch sein, die sich in den Tiefendetails und Filigranen dieser einmaligen mathematischen Menge herumgetrieben haben und herumtreiben. Es gab Zeiten, zu denen ich mich mit anderen Apfelm„nnchen- Wanderern ber bestimmte Zahlenfelder zwischen Minus 1,5 und 0 vertikal als auch horizontal auf eine Weise unterhalten konnte wie mit jemandem, der auch einmal ein exotisches Land besucht hat, in dem man selber einmal gewesen ist. "Du muát dich in dem Tal zwischen diesen Korallenstrukturen in die Tiefe rechnen", sagte beispielsweise jemand, "du wirst sehen, es ist herrlich." Was mich tats„chlich Stunden und Tage gekostet hat und zeitweilig immer noch kostet, ist ein Progr„mmchen, das keine zehn Zeilen lang ist und mit dem sich schnell und unaufwendig als "Psycho-Tapeten" bezeichnete Fraktale in unendlichen Formvarianten erzeugen lassen. Mir tut es um keine dieser Stunden leid, weil ich damit fr mich eine Art der Meditation gefunden habe. Fraktale Bilder ben einen groáen „sthetischen Reiz aus und laden zu vielerlei Interpretationen ein. Teils sind es mineralische oder pflanzliche Strukturen, die sich zeigen, teils gegenstandslose K”rnungen und Punktwolken, aus denen aber immer eher ein Hauch von Natur, von Sternenhimmel, Sanddndungen oder Felsschraffuren weht, als kahle Abstraktion. Wie sonderbar, daá gerade der Computer, diese als kalt und entfremdend verrufene Maschine, derlei Eindrcke vermittelt. Meine Freunde und ich haben im Computer-Labor in dem Raum nebenan in den letzten Tagen eine Anzahl von Programmen zur Erzeugung fraktaler Strukturen vorgefhrt. Eine der Fragen, die dabei ”fters gestellt wurde, war: Was bedeuten diese Formen? Wenn die Natur vielleicht mit Hilfe „hnlich einfacher Anweisungen ihre komplexen Formen entfaltet - k”nnte das eventuell bedeuten, daá man irgendwann auf eine Art Weltformel st”át? Die Abbildung eines Fraktals bedeutet fr sich genommen gar nichts. Fr Mathematiker ist es die tabellarische Darstellung einer Menge von Zahlen, die bestimmte Eigenschaften aufweisen. Fr mich als Schriftsteller sind Fraktale beraus anziehend, da eines meiner Arbeitsprinzipien, nach einem Satz von Peter Handke, lautet: "Literatur bedeutet, noch nicht vom Sinn besetzte Orte ausfindig zu machen." Ich sehe keinen Grund, aus Fraktalen eine Weltanschauung zu machen, oder, was sich in die vielf„ltigen Formen an ebensolcher Vielfalt hineininterpretieren l„át, mit der Wucht von Behauptungen auszusprechen. Die fraktalen Formen sind fr den, der wie ich gern seine Phantasie in die Zgel schieáen l„át, ein Fllhorn voll Ideen. Ich finde Fraktale ungemein inspirierend. Wie der Computer als ganzes, als das erste wirklich multifunktionale Instrument - wenn man einmal das Schweizer Taschenmesser auáer acht l„át -, so gibt auch die spezielle Anwendung, fraktale Bilder zu erzeugen, jedem, der sich mit dem Computer besch„ftigt, die M”glichkeit, auf eine neue Weise ber sich selbst nachzudenken. Als ich beispielsweise verstande habe, wie das Suchen und Auffinden von Begriffen in einer Datenbank funktioniert, habe ich zum Vergleich darber nachgedacht, wie das eigentlich in meinem eigenen Kopf vor sich geht. Jeder kennt das, wenn einem ein Buchtitel auf der Zunge liegt, aber nicht einfallen will. Oft dauert es Stunden, oder man wacht sprichw”rtlich mitten in der Nacht auf und weiá es pl”tzlich. W„hrend dieser Stunden hat ein interessanter, kleiner, aber beraus komplexer Prozeá im Kopf nach dem Titel gesucht. Betrachtet man nach einer solchen Selbstbetrachtung wieder den Computer und die vermeintlich hochkomplizierten Programmsysteme, die darauf betrieben werden, so relativiert sich der Respekt vor der Technik auf ein, wie ich meine, vernnftiges Maá. Es sind sehr, sehr einfache und eingeschr„nkte Modelle, bestimmte Formen von Denken und Bewuátsein zu reflektieren, die uns der Computer zur Verfgung stellt. Eine neue M”glichkeit, immerhin, wobei man bei aller Faszination, die die Technik bisweilen ausbt, nie ihre Unzul„nglichkeiten und Beschr„nkungen aus dem Auge verlieren sollte. Das Elektronengehirn, um einmal absichtlich diese etwas angestaubte Bezeichnung zu verwenden, hat eine Entwicklungszeit von etwa 40 Jahren hinter sich. Dem gegenber steht ein Organ wie die menschliche Groáhirnrinde mit einer Gesamt-Entstehungszeit von mehreren hundert Millionen Jahren und im einzelnen einer Entwicklungszeit von nicht unter 500.000 Jahren. Auch von den schnellsten Supercomputern l„át sich die Natur nicht so einfach berrunden, auch wenn manche Menschen das wnschen oder befrchten sollten. Fraktale sind eine sch”ne Sache. Die berraschende Žsthetik, die sie entfalten, schl„gt Brcken zwischen der Kunst und den Wissenschaften, die in unserer Zeit ohnehin durch unn”tig groáe Abst„nde getrennt nebeneinander wirken. Zahlreiche Programme, die sehr einfach zu bedienen sind, gestatten es auch Interessierten, die sich nicht mit den mathematischen Hintergrnde der Gebilde befassen m”chten, indem sie einfach ein paar Zahlen nach Belieben ver„ndern, reizvolle und verblffende Formen entstehen zu lassen. Und, wie schon erw„hnt, liegt fr mich eine der wesentlichen Bedeutungen der Fraktale in der Idee selbst und in der M”glichkeit, auf eine neue, subtile Weise ber uns selbst nachzudenken. Fraktale, und - wenn man davon sprechen kann - das "fraktale Denken" brechen die scharfe und, wie sich zeigt, grobe Trennlinie zwischen Linie und Umgebung, zwischen Innenwelt und Auáenwelt, wenn man so will: zwischen Ying und Yang, auf. Die Dinge und Wesen der Welt, so wird uns auf neue Weise einsichtig, sind auf viel feinere Art strukturiert und in ihre Umgebung verbunden, als wir bisher angenommen haben, uns selbst eingeschlossen. Ich danke Ihnen fr Ihre Aufmerksamkeit. (c) Peter Glaser